Es war die 18.Spielminute im #FinaleDahoam. Ich weiß das, weil ich auf die Stadionuhr geschaut habe. Zu diesem Zeitpunkt merkte ich zum ersten Mal, dass dieser Abend schwer werden würde.
Warum? Weil ich nach 20 Jahren mal wieder mitten im Fanblock des FC Bayern stand und bis an die Grenzen meiner Belastbarkeit ging. Wie damals. In all den Gastspielen meines FC Bayern bei denen ich anwesend sein durfte.
Das Problem: Es waren dies eigentlich immer nur irgendwelche Bundesliga- oder Pokal-Spiele. Kaum ein Spiel hatte eine gleiche Erschöpfung zur Folge wie dieses Championsleague-Endspiel im eigenen Stadion.
Wie auch? War ich doch in dieser 18.Spielminute schon ca. zwei Stunden im Stadion auf meinem Platz und hatte ich schon zu diesem Zeitpunkt schon jede Menge Support hinter mir. Aber die Anspannung, die dieses Finale mit sich brachte, gepaart mit der Tatsache, dass ich jetzt tatsächlich auch 20 Jahre älter bin, ließ mir fast die Beine wegsacken.
Ich hielt durch. Bis in die Halbzeit. Und musste mir zu allem Überfluss noch anschauen, wie die Bayern im Prinzip dieses Spiel dominierten und beste Chancen liegen ließen. Beim Halbzeitpfiff hätte ich eigentlich dringend etwas trinken müssen, aber ich konnte nicht mehr tun, als mich auf meinen Sitz fallen lassen und die 15 Minuten Pause zu nutzen, die mir geboten wurden. Dabei war ich gleichzeitig wie berauscht von der Stimmung in unserer Südkurve, von der roten Wand, die wir in diesem einen Spiel endlich einmal waren, der Wand, die wir uns doch alle schon viel länger erträumt hatten in München. Und ich war ein Teil davon. Nicht nur von der beeindruckenden Choreo. Aber selbst da taten mir nach drei Minuten schon die Arme weh. Auch hier: Ich hielt durch.
Wie ich auch nach der Rückkehr der Mannschaften mich wieder von meinem Sitz erhob und selbst nach dem Stimmungsabbruch nach den Bengalows im Nachbarblock 315 wieder in die übergreifenden Anfeuerungen einstimmte. Alternativlos. Wieder Chancen, wieder ergebnislose Eckbälle, wieder Konterversuche der Engländer, die unsere Aushilfs-Defensive klären konnte. Irgendwann musste doch mal dieses Tor fallen.
Dieses Tor zur Glückseligkeit.
Dann die 83.Minute. Vor der Südkurve. Nach einer dieser unzähligen Strafraum-Wuseleien unserer Offensive. Teilweise zu verspielt, teilweise zu lässig, teilweise einfach nur fahrlässig. Und dann kam Müller. Und Esktase, Freude, Schreie – eine Explosion. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen.
Selbst solche – zuvor schon mehr oder weniger deutlich als Südkurven-Touristen erkennbare – Bayern-Fans, die aber jeden Support mehr oder weniger mit machten.
Mitten drin der Paule. Der Paule, der seit vielen Jahrzehnten Fan dieses Vereins ist. Der in dieser Zeit viele Meisterschaften, viele Pokalsiege und fünf Championsleague- oder Landesmeister-Cup-Endspiele gesehen hat und hier nun endlich einmal dabei war. Der Paule weinte. Er weinte wie 2001. Als wir nach 25 Jahren zum ersten Mal wieder diesen Henkelpott in einen Nachthimmel recken konnten. Hemmungslos möchte ich hinzufügen.
Alles erschien perfekt, alles richtig.
Und dann die Dusche. Eine eiskalte zudem. In Gedanken war ich noch dabei, zu überlegen, ob das jetzt tatsächlich die erste Ecke für den Gegner war. In der 88.Minute. Der Ausgleich. Der Stich ins Herz, schnelltrocknende Tränen. Und die Gedanken an „Barcelona“. An die Auswechslung Matthäus‘ und die späten Tore. Die Angst, jetzt ähnliches zu erleben, weil der Gegner plötzlich Oberwasser gewinnt. Die Gedanken, weshalb man nicht entweder all diese Chancen verwertet hat oder einfach nur mal das eigene Tor verriegelt, zunagelt.
„Wie soll ich nur diese Verlängerung überstehen?“ Einfach immer nur weiter, immer weiter. Am Ende haben wir doch unseren Neuer. Gedanken über Gedanken und die Erkenntnis, dass unsere Mannschaft sichtlich geschockt ist und jetzt kurz davor steht, den entscheidenden Treffer zu kassieren.
Als der Elfmeterpfiff ertönt keine Freude. Keine Freude wie beim 1:0. Eher Sorge. Und ungläubige Hoffnung. Dann die Beobachtung der Szenerie, dass wohl kein Effenberg a la 2001 auf dem Platz steht.
Die Körpersprache zwischen Gomez und Robben, die sich den Ball zuschieben lässt mich zweifeln.
Dann der Anlauf und das Hin- und Hergerissen sein zwischen Dortmund, Madrid und Dortmund. Und die Schockstarre. Warum, Arjen, warum?
Der Rest ist Hoffen, Bangen, Erschöpfung, Mobilisierung der letzten Reserven. Eigentlich müsste ich das Stadion verlassen, mich irgendwo hinlegen, ausruhen, erholen, davon rennen. Aber wem würde das helfen?
Das hier ist historisch! Daran wirst Du Dein Leben lang denken.
Elfmeterschießen. Unsere letzte Patrone, unser letztes Ass. Neuer.
Wir spielen vor der Süd. Das ist gut. Chelsea fängt an. Neuer hält, er hält! Unfassbar. Schon wieder.
Gedankenblitze. Kahn. 2001.
Dann die nächsten Elfmeter. Lahm, Chelsea, Gomez. Es läuft. Es läuft gut. Da kann doch jetzt nicht mehr schief gehen, da darf doch jetzt nichts mehr schief gehen!
Dann der nächste Bayern-Schütze. Aber wo bleibt er denn? Will denn keiner? Was soll das denn? Was winkst Du so, Gomez? Wie, Neuer? Neuer?? WTF? Neuer läuft an, mir rutscht endgültig das Herz in die Hose… NEUER! Er trifft!! Wie geil ist das denn? 3:1 für uns. DREIZUEINS. So. Und jetzt Neuer, halt den nächsten. Halt ihn! Neuer!! Ach, Mist. Ok. 3:2. Jetzt kommt Olic. Ok, Ivica. mach es, hau das Ding einfach rein. Er läuft an. Und… …verschießt! Bitte nicht. Lass das nicht wahr sein. Dann halt bitte den nächsten, halt ihn, Neuer! 3:3. Ausgleich. Ok, es geht weiter. Und wer kommt jetzt? Ok, der Schweinsteiger. Alles klar. Das geht klar. Hau ihn rein, Schweini. Wie in Madrid! Hau ihn! Was macht der denn da? Wieso machst Du so Spielchen, schieß! Der Ball geht… er geht… an den Pfosten… …und geht… …nicht ins Tor! Er geht nicht ins Tor! Oh Gott. Bitte lass‘ das nicht wahr sein. Neuer, halt jetzt bitte den letzten! Wer schießt den denn? Was, der Drogba? Oh nein, bitte nicht. Lass‘ das nicht wahr sein. Drogba läuft an, er schießt… UND…
[…]
Das Video, dass das Elfmeterschießen zeigt bricht ab. Überhaupt bricht alles ab. Ich setze mich endlich auf meinen Sitz. Wir alle setzen uns hin. Die ganze Südkurve, alle Blöcke. Während ca. 100 Meter vor uns die Hölle losbricht. Ich weine nicht. Ich kann nicht weinen. Komischerweise kann ich nie weinen in solchen Momenten. Ich bin leer. Der Resetknopf wurde gedrückt. Der Fan-Teil von mir bricht zusammen.
Der Rest hat seine Augen geöffnet, schaut hingegen ins Leere. Ich bleibe sitzen. Bis zum Schluss. Bis zum bitteren Ende. Bis ich den Pokal sehe. Den Pokal, der eigentlich für uns sein sollte.
Ich denke an gar nichts mehr. Ich schaue nur. Ich brauche das jetzt. Es ist Teil eines körperlichen Reflexes. Ich könnte mich jetzt gar nicht bewegen. Der Kopf löst sich vom Geist, vom Körper. Erst eine unbekannte Zeit später sammelt sich alles wieder und ich lasse mich in einer schweigenden Masse aus dem Stadion fort treiben. Auf meinen Weg weg. Weg von diesem Ort, der mir eine ganze Championsleague-Saison der Ort der Freude und Hoffnung war. Mein roter Faden durch diese merkwürdige Saison 2011/12.
Es ist zu Ende. Alles ist zu Ende. Geht es weiter? Ja sicher. Wie immer. Aber vorstellen kann ich mir dies nicht. Der Nicht-Fan-Teil meines Körpers macht was er soll. In die U-Bahn, S-Bahn, ins Auto, ins Hotel, ins W-LAN, nach Twitter. Erst langsam komme ich wieder zu mir. In dieser Nacht, in den Tagen, während ich diese Zeilen schreibe.
Ob es irgendwann heilt? Im nächsten Jahr in London? Im dortigen Championsleague-Finale? Ganz ehrlich? Das ist mir immer noch scheiß egal! Jetzt. Lasst mich einfach noch ein wenig in Ruhe. Mit diesem Fußball.
Ich meld‘ mich dann wieder. [1] [2]
[1] Wer hier einen meiner üblichen Spielberichte erwartet hat, den muss ich leider enttäuschen. Soll ich hier als x. Fan noch mal das durchkauen, was alle schon durchgekaut haben? Sicher darf Robben diesen Elfmeter reinzimmern. Sicher hätte ich – danach – eher gewünscht, dass ein Alaba auf dem Platz gestanden hätte, weil der sich eventuell von dem Druck des #FinaleDahoam freigemacht hätte. Aber wer weiß das schon? Wer weiß schon, wie wir selbst agiert hätten, wenn uns der Trainer gefragt hätte, ob wir im Elfmeterschießen antreten? Wer will behaupten, dass er dieser Situation stand gehalten hätte? Am Ende des Tages sind auch unsere Spieler alles nur Menschen, oder?
[2] Auch wenn viele das so sehen – dieses Spiel war für mich nicht schlimmer als „Barcelona“. Nichts ist schlimmer als „Barcelona“. Weil wir viele Chancen hatten, dieses Spiel doch noch zu entscheiden und die Mutter aller Niederlagen eben imho nicht wiederholbar ist.